Wahrheiten waren lange in Stein gehauen. Die Zehn Gebote Gottes zum Beispiel – im Judentum das Herzstück der Thora und im Christentum die Hauptquelle der christlichen Ethik. Moses erhielt sie auf dem Berg Sinai, so heisst es in der Bibel, zweimal sogar, weil er aus Wut und Trauer darüber, dass die Menschen um das Kultbild des goldenen Kalbs tanzten, die ersten Tafeln zerschmettert hatte. Später waren es Inschriften und Zeichen an Kathedralen, an Schlössern, an Villen, die vom absoluten Willen und vom Handeln der heiligen und säkularen Herrscher berichteten.

Mit der Aufklärung, mit der Moderne, der Ermächtigung der Menschen, der Erfahrung des Ich und der Anderen änderten sich die Orientierungs­richtungen. Keine vertikale, auf Gott hin gerichtete Orientierung mehr, sondern eine horizontale, offene, ausweitende. Der Blick in die Landschaft hinaus wurde bestimmend, die Eroberung der Weite, der Oberfläche, der Welt. Schrittweise begannen die Menschen die Erde zu besetzen, zu bestimmen, sie mit ihren Ideen, Plänen, Wegen und mit ihren mächtigen Bauten zu zeichnen. Die Natur wandelte sich in grosser Geschwindigkeit in eine gerichtete, vektorielle Landschaft. Wir Menschen prägten über die vergangenen vier Jahrhunderte in steigendem Masse unsere Wahrheiten und Bedürfnisse in die Erdoberfläche ein. Heute stehen wir, wie Paul Virilio es in den 1990er Jahren formulierte, „an der Schwelle einer neuen «Stadt des Lichts» im Zeichen der Elektro-Optik und Elektro-Akustik, die die alte «Stadt der Materie», die ja ihrerseits die Dörfer und ländlichen Siedlungen verdrängt hatte, ablösen wird. Die VIRTUELLE STADT, die letzte der Städte, ist so gesehen keine präzise situierbare urbane Entität mehr, sondern eine METASTADT... .“

Jean-Marc Yersin zeigt uns in seinen „Vestiges“ solche Zeichen der Machtergreif­ung der Menschen, der Eroberung des Raumes, der Zeit, der Geometrisierung der Natur. Und er lässt uns spüren, wie wir nun nicht mehr mit natürlichem Stein, vielmehr mit selbst entwickelten Materialien – mit Asphalt, Teer, vor allem aber mit Zement, mit Beton – unseren Willen auf die Erdoberfläche aufgetragen und in ihr verankert haben. Masse, Energie und Information der Menschen, vermengten sich, so Virilio, mit der Landschaft, und schrieben sich in ihr ein.

Yersins schwarzweisse Fotografien stechen dabei eindrücklich aus der Tiefe der Landschaft in die Fläche des Bildgevierts. Sie sind als Bildmaterial so klar definiert, geschärft, im Kontrast hoch und zugleich im Bildausschnitt meist eng gefasst - bei Brücken oder Hochstrassen oft aus einer Untersicht -, dass sie sich gleichsam doppelt von der Realität zu lösen scheinen. Sie erscheinen durch die bildnerische Intervention, durch das Beschneiden einerseits als ästhetische Objekte, als funktionslose Artefakte und andererseits eben als „Vestiges“, als Überreste, als absehbare Ruinen einer Zeit, die offenbar allmählich am Vergehen ist.

Wer wird wo, wann und wie die nächsten, die Zeichen der Zukunft setzen? Diese Frage stellt sich fast automatisch, wenn man diese Fotografien aufmerksam durchschaut. Und wer wird in welchen Materialien darüber berichten? 

Urs Stahel,  Kurator, Autor, Dozent und Berater